(* 1930 Wendorf, † 2025 Düsseldorf)
Die südliche Chorumgangskapelle der Lübecker Marienkirche beherbergt eine der eindrücklichsten Installationen von Günther Uecker, bestehend aus einer Gruppe von vierzehn großen Holzkreuzen. Sie ragen in unterschiedlicher Höhe weit nach oben empor, teils stehen sie fest auf dem Kirchenboden, teils sind sie rollbar. Jedes der Kreuze ist versehrt, jedes ist auf eigene Art in sich gebrochen, geknickt und hat geborstene, zersplitterte Enden. In dem Bereich, in dem ein gekreuzigter Mensch angebracht worden wäre, sind die Holzbalken eng mit Stoffbahnen umwickelt, die fleckig mit weißer Farbe überzogen wurden, am Kreuzungspunkt von Längs- und Querbalken sind bündelweise riesige Nägel eingeschlagen.
[nbsp]
Diese Kreuze rufen vielfältige, erschütternde Assoziationen hervor. Zu denken ist etwa an eine Gruppe von verletzten, erschöpften Menschen, die sich, mit schmutzigen Verbänden ungenügend versorgt, nur mühsam aufrecht halten können, oder aber an überdimensionale Friedhofskreuze, die, notdürftig zusammengezimmert, Gräber markieren sollen. Durch ihre aufragende, das menschliche Maß weit übersteigende Größe und die Platzierung in einem ummauerten Bereich unterhalb der hoch angesetzten Kirchenfenster ist die Szenerie unübersichtlich und nur indirekt beleuchtet, die eng gedrängte Kreuzgruppe lässt sich nur schwer in ihrer Gänze erfassen. In der dadurch entstehenden überwältigenden und irritierenden Präsenz wirkt die Installation als ergreifendes Mahnmal.
[nbsp]
Das Kreuz ist das Sinnbild für das Leiden Christi. Als dessen unbeseeltes Marterinstrument wird es hier umgedeutet zu einem Subjekt, das selbst leidet und stirbt. Die Anzahl der Kreuze nimmt Bezug auf die vierzehn Kreuzwegstationen, welche in der katholischen Kirche als Wallfahrtsweg das Martyrium Christi für die Gläubigen nacherlebbar machen. In diesem Sinne klingen auch Sühne und Mitgefühl in dieser Installation thematisch an. Sehr bewusst wählte Günther Uecker, der das Werk anlässlich der EXPO 2000 schuf und dem es bis heute gehört, den Standort in der Marienkirche, denn sie repräsentiert mit ihrer eigenen kriegsbedingten Versehrtheit und ihrem Wiederaufbau eine Kultur der Erinnerung, aber auch des Neuanfangs.
Günther Uecker ist einer der bedeutendsten deutschen Künstler der Gegenwart. Er wuchs im ländlichen Mecklenburg auf und absolvierte nach seinem Schulabschluss eine Lehre als Anstreicher und Schreiner, bevor er in Wismar und in Berlin-Weißensee Malerei studierte. 1953 siedelte er aus der DDR zunächst nach West-Berlin um und zog zwei Jahre später nach Düsseldorf. Hier studierte er bis 1957 an der Kunstakademie bei Otto Pankok. In dieser Zeit entstanden bereits die ersten seiner Nagelreliefs, für die er weltberühmt werden sollte. Die Arbeit mit Nägeln dominiert sein gesamtes weiteres Schaffen. Die oftmals weiß übermalten Nägel, mit denen er Leinwände, Holz und Objekte dicht überzieht, erschaffen durch ihre unterschiedlichen Ausrichtungen wirbel- oder spiralförmige Muster, durch ihre Plastizität rufen sie Licht- und Schatteneffekte hervor, die für eine besondere Lebendigkeit sorgen. 1961 trat Uecker der von Heinz Mack und Otto Piene drei Jahre zuvor gegründeten Künstlergruppe ZERO bei. Die ZERO-Künstler strebten nach einem künstlerischen Neuanfang, einer von Stille und Purismus geprägten „Stunde Null“. 1970 vertrat Uecker als einer von vier Künstlern Deutschland auf der Biennale in Venedig. Ab 1974 lehrte er als Professor an der Düsseldorfer Kunstakademie. Die 1970er und 1980er Jahre waren zudem bestimmt von zahlreichen Reisen und Arbeitsaufenthalten in Südamerika, Afrika und Asien; politische Ereignisse und sowie Einflüsse des Zen-Buddhismus prägten künftig sein Werk. Neben seinen Nagelbildern und -objekten schuf der Künstler auch Lichtinstallationen und Bühnenbilder. 1999 gestaltete Uecker den Andachtsraum für den Deutschen Bundestag. 2001 wurde er mit dem Großen Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet, 2008 war er neben Mack und Piene Mitbegründer der in Düsseldorf angesiedelten ZERO foundation.